Laienreanimation in Deutschland: Alle könnten es, keiner tut es
Es ist Mittwochmittag, kurz nach 12 Uhr. Stellen Sie sich vor, Sie wären gerade mit ihrem Arbeitskollegen auf dem Weg in die Mittagspause. In einem Moment unterhalten Sie sich noch angeregt über den Skandinavientrip, den Sie für den nächsten Urlaub geplant haben, im nächsten sackt Ihr Gegenüber plötzlich bewusstlos zu Boden. Alarmiert knien Sie sich neben ihren Kollegen und stellen fest, dass dieser weder auf Rufen noch auf Rütteln reagiert und nicht mehr atmet. Geistesgegenwärtig ziehen Sie Ihr Handy aus der Hosentasche und verständigen per "112" sofort den Rettungsdienst. Und dann?
In Schweden oder Norwegen zumindest wüssten die meisten Menschen, was nun zu tun wäre: Studien zufolge springen dort nämlich rund 70 Prozent der Bevölkerung in Situationen wie diesen, die auf einen plötzlichen Herzstillstand hindeuten, sofort als Ersthelfer ein und führen bis zum Eintreffen der Rettungskräfte eine lebensrettende Herzdruckmassage durch. In Deutschland fällt die Statistik dagegen weitaus nüchterner aus: Nur in gerade einmal rund drei von zehn Fällen beginnen Umstehende, die Zeuge eines solchen Vorfalls werden, eigenständig mit Wiederbelebungsmaßnahmen.
"Bis 2012 sahen diese Zahlen sogar noch düsterer aus", sagt Bernd Böttiger, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am Universitätsklinikum in Köln. Er setzt sich seit mehr als 20 Jahren mit den Themen plötzlicher Herztod und Wiederbelebung auseinander, inzwischen unter anderem auch als Vorsitzender des Deutschen Rats für Wiederbelebung – German Resuscitation Council (GRC) – und Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) sowie der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Vor drei Jahren, so berichtet er, konnten sich Betroffene noch nicht einmal in 20 Prozent der Fälle darauf verlassen, dass jemand zur Herzdruckmassage ansetzte, bevor der Notarzt schließlich ankam.
Schlusslicht in Europa
Die Angaben stammen aus dem Deutschen Reanimationsregister, das 2003 von der DGAI ins Leben gerufen wurde. Es deckt derzeit etwa 20 Prozent aller Wiederbelebungsversuche ab, die außerklinisch durchgeführt werden. Krankenhäuser und Rettungsdienste stellen ihre Daten freiwillig zur Verfügung; vollständigere Erhebungen gibt es bislang nicht. Da hier sicherlich tendenziell jene Institutionen mitmachen, die sich ohnehin auch im Bereich der Reanimation engagieren, ist davon auszugehen, dass die tatsächlichen Wiederbelebungsquoten eher noch ein wenig schwächer ausfallen. "Deutschland lebt reanimationstechnisch noch im Mittelalter", sagt Böttiger. Nur Rumänien und Andalusien stünden im europäischen Vergleich noch schlechter da, auch in den USA wüssten immerhin rund 35 bis 40 Prozent der Bürger, was im Notfall zu tun sei.
"Deutschland lebt reanimationstechnisch noch im Mittelalter"Bernd Böttiger
Dabei ließen sich durch eine einfache Herzdruckmassage viele Leben retten. "Der plötzliche Herztod mit nicht erfolgreicher Wiederbelebung ist die Todesursache Nummer drei in Deutschland", erklärt Böttiger. Es kann jeden treffen, rund 70 Prozent aller Fälle ereignen sich im häuslichen Umfeld: Durch Kammerflimmern oder den Ausfall des taktgebenden Knotens versagt das Herz plötzlich seinen Dienst. Die Folge: Es wird kein sauerstoffreiches Blut mehr durch den Körper und vor allem nicht mehr zum Gehirn gepumpt, der Betroffene wird innerhalb weniger Sekunden bewusstlos und atmet nicht mehr oder zumindest nicht mehr normal. Werden dann nicht sofort Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet, stirbt der Patient in den meisten Fällen; die Überlebensrate liegt infolgedessen hier zu Lande bei unter zehn Prozent.
Würden Umstehende, Arbeitskollegen oder Familienangehörige, die Zeuge eines solchen Vorfalls werden, sofort nach Absetzen eines Notrufs häufiger mit einer Herzdruckmassage beginnen, ließe sich die Prognose womöglich deutlich verbessern, wie das Beispiel Dänemark nahelegt. Hier leiteten die Menschen bis 2001 ebenfalls höchstens in zwei von zehn Fällen Wiederbelebungsmaßnahmen ein, bevor man sich 2005 dazu entschloss, die Bevölkerung mit einem ganzen Paket von Maßnahmen stärker auf das Thema aufmerksam zu machen. 2010 wurde bereits in rund 45 Prozent aller Fälle durch Laien reanimiert, die Überlebenswahrscheinlichkeit beim plötzlichen Herztod hat sich im selben Zeitraum verdoppelt bis verdreifacht. Rechnet man das auf Deutschland um, könnten hier im günstigsten Fall vielleicht jährlich rund 5000 bis 10 000 Menschenleben mehr gerettet werden, so Böttigers Hoffnung.
100-mal pro Minute drücken
Wie eine Herzdruckmassage funktioniert, lernen die meisten Menschen eigentlich zumindest im Führerschein-Erste-Hilfe-Kurs: Man kniet sich neben den Betroffenen, drückt mit beiden Händen fest und schnell etwa fünf Zentimeter tief in die Mitte des Brustkorbs und summt dabei gedanklich zum Beispiel den Disco-Song "Stayin’ Alive" von den Bee Gees. Der sorgt nämlich mit einer Taktfrequenz von 103 Schlägen pro Minute dafür, dass man im Idealfall jede Minute 100- bis 120-mal drückt. Nach jeweils 30-mal Drücken wird zweimal beatmet. Aufgehört wird erst, wenn der Rettungsdienst eintrifft. Sind mehrere Helfer zugegen, macht es Sinn, sich nach spätestens zwei Minuten gegenseitig abzulösen, da die Herzdruckmassage richtig ausgeführt anstrengend ist. (Eine Anleitung mit Bildern finden Sie hier.)
Aber wenn das Ganze im Prinzip so simpel ist, warum macht es dann im Ernstfall kaum jemand? Studien zeigen, dass es eine ganze Reihe von Faktoren gibt, die beeinflussen, ob Laien mit einer Herzdruckmassage beginnen. So deutet etwa eine Untersuchung aus Nordostengland darauf hin, dass vor allem in ökonomisch schwächeren Regionen Menschen wenig mit erster Hilfe am Hut haben: Dort ist die Reanimationsquote durch Umstehende noch einmal um bis zu zehn Prozent schlechter als in gut situierten Vierteln. Ältere Menschen werden generell seltener wiederbelebt als junge, Frauen nicht so häufig wie Männer. Letzteres könnte auch mit soziokulturellen Normen zusammenhängen, wie ein Versuch von kanadischen Wissenschaftlern nahelegt. Die Forscher ließen 69 Probanden entweder an einem männlichen oder einem weiblichen Patientensimulator Wiederbelebungsmaßnahmen trainieren. Dabei stellte sich heraus, dass die Teilnehmer selbst bei den künstlichen Patienten zögerlicher waren, wenn diese eine Frau darstellten. In diesem Fall hatten etwa sowohl weibliche als auch männliche Ersthelfer mehr Hemmungen, störende Kleidungsstücke beiseitezuschieben oder den Oberkörper gar ganz zu entblößen. Die Autoren glauben daher, dass es sinnvoll sein könnte, regulär an Übungspuppen beider Geschlechter zu üben und nicht nur an männlichen, wie es aktuell häufig praktiziert wird.
Einen deutlichen Unterschied im Bezug auf die Hilfsbereitschaft von Laien macht es offenbar auch, ob man diese anweist, ganz klassisch eine Herzdruckmassage samt Beatmung durchzuführen – oder ob man sie instruiert, letztere Komponente im Zweifelsfall einfach wegzulassen. So zeigen etwa Studien aus Europa, den USA und Asien, dass häufiger reanimiert wird, wenn die Umstehenden im wahrsten Sinn des Wortes einfach nur drücken müssen, bis der Arzt kommt. "Diese Erkenntnis setzt sich auch in Deutschland langsam durch", sagt Bernd Böttiger. Die DGAI und der Deutsche Rat für Wiederbelebung empfehlen Helfern daher mittlerweile ebenfalls, nur eine Herzdruckmassage durchzuführen, wenn diese sich zur Mund-zu-Mund-Beatmung nicht befähigt sehen oder diese ablehnen. Das sei in jedem Fall akzeptabler, als komplett auf Wiederbelebungsmaßnahmen zu verzichten.
"Drücken ist die Pflicht, beatmen ist die Kür"Bernd Böttiger
"Wir sagen immer: Drücken ist die Pflicht, beatmen ist die Kür", so Böttiger. Die vorsichtige Abkehr von der Mund-zu-Mund-Beatmung hänge auch damit zusammen, dass es inzwischen neuere Studien gibt, die zeigen, dass in den ersten Minuten nach einem Herzstillstand in aller Regel noch genug Sauerstoff im Blut vorhanden ist. Daher reicht es zunächst tatsächlich aus, wenn Laienhelfer die Funktion der Pumpe übernehmen und das Blut weiterhin durch den Körper und vor allem zum Gehirn schicken. Von dieser Regel gibt es allerdings Ausnahmen: Wenn der Notarzt sehr lange braucht, oder wenn ein atypischer Kreislaufstillstand vorliegt – beispielsweise durch Ertrinken oder Erhängen und bei Kindern –, muss in jedem Fall beatmet werden. Die Mund-zu-Mund-Beatmung wird daher auch weiterhin fester Bestandteil einer jeden Erste-Hilfe-Ausbildung bleiben.
Zu viel Vertrauen in den Notarzt
In Deutschland hat die Reanimationsmüdigkeit der Bevölkerung auch noch drei andere Gründe, glaubt Böttiger. Möglicherweise sorge gerade unser gutes Notarztsystem dafür, dass sich hier zu Lande viele Menschen in trügerischer Sicherheit wähnen: "Wir leben in dem Gefühl, dass immer jemand hilft. Dass der Rettungsdienst durchschnittlich nach etwa acht bis zwölf Minuten vor Ort ist." Damit kommt er in aller Regel trotzdem zu spät für jene, deren Herz bereits stillsteht: Schon nach drei bis fünf Minuten nimmt das Gehirn ohne entsprechende Sauerstoffversorgung unwiderruflich Schaden.
Viele Menschen hält zudem auch die Angst davor, im Eifer des Gefechts etwas falsch zu machen, vom Helfen ab. Was passiert, wenn man etwa zu heftig drückt und dem ohnehin schon Bewusstlosen auch noch eine Rippe bricht? Bernd Böttiger findet für solche Sorgen klare Worte: "Das Einzige, was man in so einer Situation falsch machen kann, ist nichts zu tun!" Rippen würden in etwa der Hälfte aller Fälle brechen, erklärt der Mediziner, vor allem dann, wenn die Herzdruckmassage korrekt ausgeführt wird und man tatsächlich fest genug drückt. Ihm sei jedoch kein Fall bekannt, in dem jemand dadurch bleibenden Schaden genommen hätte.
Das größte Problem sieht Böttiger in der unzureichenden Ausbildung in Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung hier zu Lande. Es sei eben nicht ausreichend, das lebensrettende Verfahren nur einmal mit 17 oder 18 Jahren im Rahmen des Führerschein-Erste-Hilfe-Kurses zu üben. Hier bekommen die Teilnehmer oft in wenigen Stunden am Stück viel Input; die Herzdruckmassage ist davon nur ein Bestandteil. Schnell haben die meisten Menschen die Hälfte wieder vergessen. "Am besten bleibt in aller Regel noch die stabile Seitenlage hängen", so Böttiger, "doch auch die wird meistens falsch gemacht – und ich kenne niemandem, dem sie jemals genutzt hätte."
Reanimation im Schulunterricht
Der Mediziner plädiert daher dafür, Reanimation deutschlandweit zu einem festen Bestandteil des Schulunterrichts zu machen und alle Schüler ab der siebten Klasse regelmäßig zwei Stunden pro Jahr darin auszubilden. Das empfiehlt inzwischen auch die Kultusministerkonferenz der Länder. In vielen Bundesländern sind die Vorbereitungen für solche Wiederbelebungskurse mittlerweile angelaufen, bis sie tatsächlich flächendeckend in allen Schulen stattfinden, wird es aber wohl noch einige Jahre dauern.
Dass das Konzept funktionieren kann, zeigen etwa ebenfalls die Erfahrungen aus Dänemark. Auch hier wurde Reanimation 2005 flächendeckend in den Schulunterricht integriert. Das trug vermutlich mit dazu bei, dass das Land seine Quote bei der Laienreanimation entscheidend verbessern konnte. In Norwegen, einem der europäischen Länder mit der höchsten Laienreanimationsquote, ist Wiederbelebung schon lange ab der siebten Klasse Pflicht. Nina Plant und Katherine Tylor vom Hospital for Sick Children in Toronto, Kanada, nahmen 2012 eine Vielzahl von Studien unter die Lupe, die sich mit Wiederbelebungstraining für Schulkinder befassten. Herausarbeiten, welche der zahlreichen Unterrichtsmethoden am besten funktionierten, konnten sie zwar nicht, doch auch sie sprechen auf Grund ihrer Datenbasis klar die Empfehlung aus, die Grundlagen der Reanimation wiederholt im Unterricht zu üben.
Auch Bernd Böttiger und seine Kollegen werden in diesem Jahr im Rahmen der "Woche der Wiederbelebung", die aktuell vom 19. bis zum 26. September 2015 läuft, wieder rund 800 Schülern in Köln und Umgebung zeigen, wie Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung funktionieren. Die "Woche der Wiederbelebung" wurde 2012 von der DGAI, dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten, dem GRC und der Stiftung Deutsche Anästhesiologie basierend auf der Aktion "Ein Leben retten. 100 Pro Reanimation" initiiert. Ärzte, Kliniken und Rettungsdienste in ganz Deutschland versuchen dabei mit zahlreichen unterschiedlichen Veranstaltungen, stärker auf das Thema Reanimation aufmerksam zu machen und den Menschen zu vermitteln, was sie im Ernstfall tun können.
"Wir geben unseren Schülern anschließend immer als Hausaufgabe auf, das, was sie in dieser Woche gelernt haben, auch noch zehn weiteren Leuten zu zeigen", sagt Böttiger. Einen kleinen Sprung hat die Laienreanimationsquote in Deutschland in den vergangenen drei Jahren Dank solcher Maßnahmen bereits gemacht. Das nächste Etappenziel ist aber schon klar abgesteckt: "Bis 2020 wollen wir auch die 50-Prozent-Marke knacken."
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